Herr Cassis, setzen Sie sich für einen Waffenstillstand in Gaza ein

Two boys standing in front of rubbles, Gaza
18.12.2023

Offener Brief von acht NGOs an Bundesrat Ignazio Cassis anlässlich des Welttages für einen Waffenstillstand in Gaza

Herr Cassis, setzen Sie sich für einen sofortigen und langfristigen Waffenstillstand in Gaza ein

Sehr geehrter Herr Bundesrat,

Wir, acht Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten einsetzen, richten einen dringenden und klaren Appell an die Schweizer Regierung: Setzen Sie sich für einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand ein. Dies ist die einzige Möglichkeit, um weitere zivile Opfer zu verhindern, die zivile Infrastruktur zu schützen, die Versorgung und Pflege der Verwundeten und die Lieferung humanitärer Hilfe zu gewährleisten und damit die Verletzungen des humanitären Völkerrechts zu beenden. Die Schweiz hat die rechtliche Verantwortung, die Konfliktparteien zum Schutz der Zivilbevölkerung zu verpflichten.

In Gaza fehlt es inzwischen an den allernötigsten Lebensgrundlagen. Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen: In den überfüllten Gesundheitszentren und Spitälern muss das erschöpfte medizinische Personal über die vielen Patient:innen steigen, die überall auf dem Fussboden liegen, und chirurgische Eingriffe ohne Anästhesie durchführen. Das Pflegepersonal und die Menschen, die es betreut, sind direkten Angriffen ausgesetzt. Einmal am Tag zu essen und brackiges Wasser zu trinken ist für die Bevölkerung zum Alltag geworden. 1,9 Millionen Zivilist:innen sind vertrieben und wurden teils bereits mehrfach gezwungen, vor den Bombenangriffen zu fliehen. Viele Familien müssen auf der Strasse, am Strand, in Autos oder in überfüllten Unterkünften schlafen. Bald könnten Epidemien und Hungersnöte mehr Opfer fordern als die Bombardierungen. Kinder, schwangere und stillende Frauen, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen und Menschen mit chronischen Krankheiten sind am stärksten von dieser Situation betroffen. Wir dürfen diese Katastrophe nicht stillschweigend hinnehmen: Es liegt in unserer Verantwortung, zu handeln - und in Ihrer.

Wir hatten gewarnt, dass die «vollständige Belagerung», die die israelische Regierung seit dem 9. Oktober verhängt hat, und die Beschränkungen des Zugangs für humanitäre Hilfsgüter verheerende Folgen haben würden. Doch die physischen und psychischen Auswirkungen auf die gesamte Zivilbevölkerung, insbesondere auf Kinder und besonders gefährdete Personen, sind schlimmer, als wir es uns hätten vorstellen können. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit spielt sich eine vollständig von Menschen verursachte Katastrophe ab.

Das humanitäre Völkerrecht ist eindeutig: Auch Kriege haben Regeln. Und diese werden in Gaza ungestraft mit Füssen getreten. Die Zahl von 18’000 getöteten Menschen, davon 70 Prozent Frauen und Kinder, zeigt, dass die Einhaltung dieser Regeln mit der Fortsetzung der Militäroperationen in Gaza unvereinbar ist. Wie viele Zivilist:innen müssen noch sterben, damit sich die Schweiz für einen dauerhaften Waffenstillstand einsetzt? Wir akzeptieren nicht, dass diese Todesfälle und die massive Zerstörung von Wohnvierteln, Geflüchtetencamps, Spitälern, Schulen und religiösen Stätten als Kollateralschäden betrachtet werden.

2,2 Millionen Zivilist:innen benötigen einen sofortigen Waffenstillstand, um überleben zu können. Der Krieg hat Millionen von Menschen gezwungen, vom Norden in den Süden zu fliehen. Sie leben nun unter unhygienischen Bedingungen und ohne jegliche Sicherheitsgarantie. Wir weisen darauf hin, dass kein Ort in Gaza sicher ist: Die sogenannten "Sicherheitszonen" werden ständig angegriffen und bieten den Vertriebenen keinen Schutz. Die siebentägige Pause, die Ende November verhängt worden war, war eine Atempause für die Bevölkerung. Sie reichte jedoch nicht aus, um es humanitären und Menschenrechtsorganisationen zu ermöglichen, auf die enormen Bedürfnisse der Zivilbevölkerung zu reagieren.

Die totale israelische Blockade verhindert die Grundversorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln, Treibstoff und Strom. In dieser Situation und unter den anhaltenden Bombardements können wir keine humanitäre Hilfe leisten. Es ist illusorisch zu glauben, dass eine angemessene humanitäre Reaktion erfolgen kann, wenn die Bombardierungen nicht enden, Hilfsgüter nicht sicher verteilt werden können und nur eine minimale Menge an Hilfsgütern überhaupt über einen einzigen Grenzübergang eingeführt werden kann.

Wir fordern, dass alle Grenzübergänge, einschliesslich Kerem Shalom und Erez, für die Einfuhr von humanitärer Hilfe und Gütern geöffnet werden.

Die Feindseligkeiten in Gaza haben direkte Auswirkungen auf die Sicherheitslage im Westjordanland, die sich gefährlich verschlechtert hat, indem die Zahl der getöteten Palästinenser:innen und die Gewalt der Siedler:innen in noch nie dagewesener Weise zugenommen hat. Die anhaltenden Auseinandersetzungen in Gaza erhöhen nicht nur die Gefahr einer Ausweitung auf das gesamte besetzte palästinensische Gebiet, sondern bergen auch das Risiko einer regionalen Destabilisierung. Darüber hinaus ist ein dauerhafter Waffenstillstand nicht nur unerlässlich, um das Leben von Zivilist:innen zu schützen, sondern auch der erste Schritt zur Wiederaufnahme eines Friedensdialogs. Der neue Zyklus extremer Gewalt, der durch die tödlichen und völkerrechtswidrigen Angriffe der Hamas und ihrer Verbündeten ausgelöst wurde, lässt keinen Zweifel daran, dass es sich die internationale Gemeinschaft nicht länger leisten kann, ihre Bemühungen um eine gerechte und dauerhafte Lösung für Palästinenser:innen und Israelis zu vernachlässigen.

Als Depositarstaat der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle muss die Schweiz das humanitäre Völkerrecht unmissverständlich verteidigen. Die politischen Interessen der Konfliktparteien dürfen nicht an die Stelle des Schutzes der 2,2 Millionen Zivilist:innen treten, deren Leben durch die andauernden Feindseligkeiten direkt bedroht sind. Ein temporärer Waffenstillstand reicht keinesfalls aus, um eine humanitäre Hilfe zu leisten, die den Bedürfnissen der Zivilbevölkerung in Gaza gerecht wird. Sehr geehrter Herr Bundesrat Ignazio Cassis, wir fordern Sie dringend dazu auf, sich nachdrücklich für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einzusetzen, indem Sie die Konfliktparteien auf die Umsetzung eines dauerhaften Waffenstillstands verpflichten.

Es braucht einen Waffenstillstand, um das humanitäre Völkerrecht zu respektieren. 
Es braucht einen Waffenstillstand, um humanitäre Hilfe zu leisten. 
Es braucht einen Waffenstillstand, um Leben zu retten. 

Unterzeichnet von: 

Association pour l’Aide Médicale Centro America - Dr. Francesco Ceppi, Präsident 

Stiftung Terre des hommes – Barbara Hintermann, Direktorin 

Frieda - Die feministische Friedensorganisation – Andrea Nagel, Direktorin 

Handicap International Suisse - Daniel Suda-Lang, Direktor und Christophe Wilhelm, Präsident 

Gerechtigkeit und Frieden in Palästina (Justice et Paix en Palestine) – Margrit Dutt, Präsidentin 

Ina autra senda Swiss Friends of Combatants for Peace

Médecins du Monde – Morgane Rousseau, Direktorin 

Medico international schweiz – Maja Hess, Präsidentin  
 

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