Offener Brief zur dringenden Situation der Kinderrechte nach 100 Tagen Krieg in Gaza  

Girl in OPT
16.01.2024

Tatenlosigkeit bringt keine positiven Veränderungen - Offener Brief von Terre des Hommes zur dringenden Situation der Kinderrechte im besetzten palästinensischen Gebiet nach 100 Tagen Krieg in Gaza  

Als internationale Kinderrechtsorganisation, die im besetzten palästinensischen Gebiet tätig ist, wenden wir von Terre des Hommes uns an die internationale Politik, um unsere Empörung über die ernste und dringende Lage der palästinensischen Kinder zum Ausdruck zu bringen und sie aufzufordern, dringend zu handeln, um eine gewaltfreie Lösung zu erreichen. 

Vom Gazastreifen bis zum Westjordanland, einschliesslich Ostjerusalem, sind palästinensische Kinder Angriffen ausgesetzt. Die Kinder im besetzten palästinensischen Gebiet sind ständig von Gewalt, Verletzungen und Tod bedroht. Kein palästinensisches Kind ist sicher.

Seit Jahrzehnten sind Kinder und ihre Familien im besetzten palästinensischen Gebiet von chronischen Schutzproblemen betroffen, wie beispielsweise der militärischen Inhaftierung von Kindern, zahlreichen schwerwiegenden Verletzungen der Kinderrechte, einschliesslich Tötungen, Angriffen auf Schulen und Spitäler, und der Abhängigkeit von humanitärer Hilfe als Folge der israelischen Hauszerstörungen, Blockade und Zwangsvertreibung, die zur längsten ungelösten Flüchtlingskrise der Welt geführt haben. Vor allem Kinder sind dadurch schweren physischen und psychischen Traumata ausgesetzt. Die brutale Gewalt, die palästinensische Kinder und ihre Gemeinschaften erfahren, wird noch über Generationen hinweg nachwirken.

In diesem Zusammenhang hat die jüngste israelische Militäroffensive im Gazastreifen, die als Vergeltungsmassnahme für die von der Hamas durchgeführten Angriffe und Geiselnahmen im Süden Israels am 7. Oktober eingeleitet wurde, zu unverhältnismässigen und irreversiblen Schäden am Leben von Kindern geführt. Mit den Worten eines UNICEF-Sprechers:  Die Teams von Terre des Hommes sind überall im besetzten palästinensischen Gebiet Zeugen eines Krieges gegen palästinensische Kinder. 

Im Gazastreifen wurden mit Stand vom 14. Januar durch israelische Bombardierungen und Luftangriffe mehr als 23’960 Menschen getötet und über 60’580 verletzt, wobei etwa siebzig Prozent dieser Todesopfer Frauen und Kinder sind. Vierzig Prozent der Bevölkerung in Gaza sind unter fünfzehn Jahre alt. Alle zehn Minuten, die der Krieg in Gaza andauert, wird ein weiteres Kind getötet. Über 10’000 Kinder wurden getötet und Tausende weitere verletzt. Rund 1,9 Millionen Menschen in Gaza, etwa 85 Prozent der Bevölkerung, wurden vertrieben - die Hälfte von ihnen sind Kinder.

“Mein Leben ist hart, hart, hart, sehr hart. Was erwartet ihr denn?" - sagt ein zwölfjähriges Mädchen in Gaza. 

Jedes Kind in Gaza leidet. Ob sie ein Familienmitglied oder einen Freund verloren haben, ob sie mit ansehen mussten, wie ihr Zuhause zerstört wurde, ob sie gezwungen waren, ihr Zuhause zu verlassen und in Notunterkünften Zuflucht zu suchen - die Kinder in Gaza leben in ständiger Angst um ihr Leben und das ihrer Angehörigen. Ihr ganzes Leben ist geprägt von der erschütternden Zerstörung und der unfassbaren Gewalt des Krieges. Selbst Kinder, die den nächsten Waffenstillstand erleben werden, sind traumatisiert und werden für den Rest ihres Lebens mit belastenden Erinnerungen leben.

"Wir sind alle in Gefahr. Die meisten Menschen spüren die Wut. Es ist für alle gefährlich. Sogar in unseren Unterkünften sind wir schutzlos. Es gibt keinen sicheren Ort", sagt eine Jugendliche aus Nablus.

Auch im Westjordanland beobachten die Teams von Terre des Hommes eine alarmierende Zunahme der Menschenrechtsverletzungen, denen palästinensische Kinder und ihre Familien ausgesetzt sind. Vom 7. Oktober 2023 bis zum 14. Januar 2024 wurden im Westjordanland 339 Palästinenser:innen getötet, darunter 88 Kinder. Im gesamten Westjordanland wurden Ausgangssperren verhängt, die den Bewohner:innen den Zugang zu lebenswichtigen Dienstleistungen verwehren und das normale Leben zum Stillstand bringen. Die israelischen Streitkräfte haben die Zerstörung palästinensischer Häuser beschleunigt und die Zahl der Verhaftungen von Zivilpersonen erhöht, was die seit langem andauernde physische und psychische Misshandlung von Kindern in israelischem Militärgewahrsam noch verschlimmert.

Die Terre des Hommes-Teams in Gaza und im Westjordanland leisten weiterhin lebensrettende Hilfe für Kinder und ihre Familien. Unsere Arbeit wird jedoch durch die ernste Lage im gesamten besetzten palästinensischen Gebiet stark beeinträchtigt. Im Gazastreifen sind die Teams von Terre des Hommes mit akutem Nahrungsmittel- und Wassermangel konfrontiert, während sie mit den Strapazen der Vertreibung und dem Verlust geliebter Menschen zu kämpfen haben. Dennoch leisten sie weiterhin aktiv humanitäre Hilfe für die Bedürftigen, unter anderem in den Bereichen Gesundheit, Hygiene und Schutz.  Im Westjordanland haben die Teams von Terre des Hommes keinen Zugang mehr zu den Städten Hebron, Nablus und Jenin, doch wir leisten weiterhin Unterstützung aus der Ferne, indem wir eng mit unseren Partnerorganisationen vor Ort zusammenarbeiten.

Wir sind immer wieder beeindruckt von der Stärke der palästinensischen Kinder und Jugendlichen, die sich gegen die Verletzung ihrer Rechte wehren. In Gaza haben Kinder eine Pressekonferenz einberufen und ein Ende der Feindseligkeiten gefordert. Andere Kinder mobilisieren sich in den sozialen Medien, um über die Gewalt, die sie erleben, zu berichten. In unseren Gesprächen mit Kindern haben sie uns gesagt, dass sie sich nach Sicherheit und Frieden sehnen.

Terre des Hommes steht an der Seite dieser Kinder und appelliert an die Staats- und Regierungschef:innen der Welt, den Krieg gegen die Kinder im besetzten palästinensischen Gebiet zu beenden, der das Prinzip der Menschlichkeit, das dem Völkerrecht zugrunde liegt, in Frage stellt.

Die Welt wird sich der Dringlichkeit bewusst, Massnahmen zu ergreifen, um das Völkerrecht aufrechtzuerhalten und eine Eskalation des Konflikts in der gesamten Nahostregion zu verhindern. Südafrika hat beim Internationalen Gerichtshof Klage wegen angeblicher Verstösse Israels gegen seine Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention eingereicht. Vertreter:innen der Europäischen Union warnen vor einem Übergreifen des Krieges auf die Nachbarländer. 
In dieser Zeit einer beispiellosen Krise wird man sich an mutige Führungspersönlichkeiten erinnern, die entschlossene Schritte unternommen haben, um den Krieg gegen die palästinensischen Kinder zu beenden. Tatenlosigkeit bringt keine positiven Veränderungen. 

Wir appellieren an die internationale Politik, dafür zu sorgen, dass die Parteien ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, einschliesslich des humanitären Völkerrechts, nachkommen, insbesondere was den Schutz der Zivilbevölkerung und vor allem der Kinder anbelangt; Rechenschaftsprozesse zu ermöglichen, damit Verletzungen der Menschenrechte von Kindern nicht ungestraft bleiben; sofortigen und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfsorganisationen zu gewährleisten; und diplomatischen Mitteln Vorrang einzuräumen, um die Freilassung aller Geiseln zu erreichen. 

Wir appellieren an die internationale Politik, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Bemühungen um einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand zu beschleunigen, als Voraussetzung für einen gerechten und dauerhaften Frieden, der es allen Kindern im besetzten palästinensischen Gebiet ermöglicht, ihre Rechte in vollem Umfang wahrzunehmen.

Unterzeichnet von: 

  • Valérie Ceccherini, Generalsekretärin Internationale Föderation Terre des Hommes 
  • Barbara Hintermann, Generaldirektorin Terre des hommes Lausanne 

Die Stellungnahme wurde direkt an mehr als 30 führende politische Persönlichkeiten, Ämter und Institutionen versandt, darunter der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd. 
 

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